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Zeitzeugin Lilo Hartmann erinnert sich an Arbeitslager und Arisierung

Stadtteilchronik mit Horst Griga: Lokstedts dunkle Vergangenheit

Lilo Hartmann (84) wuchs in ärmlichen Verhältnissen in der Niendorfer Straße auf Fotos: mf

„Beim Spielen standen wir plötzlich vor einer eingezäunten Fläche mit Baracken. Hinter dem Zaun blickten uns Frauen mit weißen Kopftüchern aus traurigen Augen an. Sie sahen so elend aus. Das war für uns Kinder schrecklich“, erinnert sich Lilo Hartmann. Die 84-Jährige hat die Kriegsjahre rund um ihr Zuhause in der Niendorfer Straße 77 voller Gewalt, sowohl häuslich als auch in der Nachbarschaft, erlebt.
 

Bei den Frauen mit den auf besondere Weise eingeschlagenen weißen Kopftüchern handelte es sich um Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine, die aus dem Lager nahe dem Heckenrosenweg täglich zur Arbeit auf den Feldern von Sundermann gebracht wurden, wie Lilo Hartman später als Antifa-Aktivistin recherchierte. 

Als sie ihrer Mutter Anfang der 40er Jahre von der prägenden Begegnung berichtete, forderte diese sie auf, nicht mehr zu dem Lager zu gehen. Lilo Hartmann wuchs mit fünf Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen mit einem gewalttätigen Vater auf. „Ich hatte eine harte Lebensschule und war eine zehnjährige Trümmerfrau“, erinnert sie sich an die Kriegs- und Nachkriegsjahre. Sie musste Steine klopfen für ein provisorisches Haus auf dem Gelände des jetzigen Kleingartenvereins an der Niendorfer Straße, klaute Kartoffeln, Rhabarber und Kohlen: „Nachbarn stellten das Signal der Güterumgehungsbahn auf Stopp, sodass der Zugführer anhalten musste. Dann kletterten die Leute rauf und warfen die sogenannten Bäckerbriketts runter. Dabei ging es brutal zu, jeder kämpfte für sich.“ Einen behelfsmäßigen Bunker gestalteten sich die Anwohner unter der Eisenbahnbrücke über die Kollau. Hier wurden von Anwohnern Steine aufgeschüttet und alles mit Holz ausgelegt.

Die Wohnung für die kinderreiche Familie war ärmlich eingerichtet, als Nachttisch im Schlafzimmer diente eine Obstkiste: „Irgendwann hatten meine Eltern plötzlich einen Eichenschrank und eine Kommode mit einem dreiflügeligen Spiegel. Das hätten sie sich nie leisten können und stammte wohl von enteigneten jüdischen Familien. Meine Eltern waren Nazi-Nutznießer“, erklärt Lilo Hartmann. Auch die Kleiderspenden, die sie als Kind mühsam für ihre Mutter auftrennen musste, stammten ihrer Vermutung nach von deportierten Juden. mf

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus

Zwangsarbeiter mussten auch in Lokstedt in größeren Betrieben die eingezogenen Soldaten ersetzen. Die Stadtteilchronik von Horst Grigat führt unter anderen ein Gemeinschaftsarbeitslager an der Stresemannallee (damals Horst-Wessel-Allee) für 680 junge Zwangsarbeiterinnen auf, ein Lager in der Kollaustraße für 556 Männer und eines am Rütersbarg für 116 Personen.

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