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Viele Menschen schämen sich, ihr Leid offen zu zeigen. Doch Gott die eigenen Sorgen zu schildern, kann befreiend sein. Carola Scherf beschreibt die Klage als ersten Schritt hinaus aus dem Elend

Kirche Hamburg: Trauer und Wut brauchen Raum

Öffentliches Klagen und Trauern: Menschen gedenken bei einer ökumenischen Andacht in der zerstörten Aegidienkirche in Hannover der Opfer der Corona-Pandemie. FOTO: DPA

Jemandem sein Leid zu klagen, ist schambehaftet. Eines der mächtigsten Gefühle im Menschen ist die Scham. Nicht die Liebe, nicht der Hass, sondern die Scham. Dieses Gefühl zwingt mich in die Norm. Vielleicht haben Sie noch die Stimmen der Eltern im Kopf: „Stell dich nicht so an.“ „Hier wird nicht gejammert.“ Oder: „Jungs weinen nicht.“ Diese Sätze sollten uns helfen, uns so zu verhalten wie alle anderen auch, damit wir uns nicht blamieren. Das hat die Scham in uns lieber schon erledigt, bevor wir aus der Reihe tanzen.

Es ist so wie mit dem Kleinkind und der heißen Herdplatte: Trifft einen der Schmerz, wird man ihn inZukunftvermeiden. Schämt man sich für eine Schwäche, wird sie möglichst nicht gezeigt. Es ist nicht en vogue zu leiden. Es ist nicht schick zu klagen. Auch die Schablone der sozialen Medien ist da bisher starr: Bilder von lachenden Gesichtern, tollen Erfolgen und bestem Essen erzählen Erfolgsgeschichten. Alles, was jenseits dieser Highlights liegt, wird nicht gezeigt. Wer traurig ist oder Rückschläge erlebt, fühlt sich nicht normal: „Alle anderen machen das besser.“ Jemandem sein Leid zu klagen, ist oft auch unerwünscht. Ich selbst habe es schon erlebt, dass ausgesprochen oder unausgesprochen klar war: „Das will ich nicht hören.“ Wenn jemand beispielsweise um einen Menschen trauert, dann sind andere damit oft überfordert. Auch wenn man in diesen Pandemiezeiten gerade an Stabilität verliert, können andere damit nicht immer umgehen. Ihnen geht es ja oft selbst so. Es ist für die Mitmenschen oft schwer zu ertragen, in die Schattenseiten des Lebens zu sehen. Lieber blendet man sie aus. Das hilft gegen die Hilflosigkeit. Die Scham für Gefühle wie Trauer oder Verzweiflung bleibt dann haften.


Im Leben hat alles seine Zeit. Lachen und Weinen. Höhen und Tiefen. Man kann es nur so nehmen, wie es kommt.

Prediger Salomo (Pred, 3)


Totschweigen macht den Schmerz nicht weg. Auch wenn die eigene innere Stimme ihn mittlerweile übertönt: „Hör auf zu jammern.“ Vielleicht sind die Traurigkeit oder die Angst betäubt, aber die Seele kämpft damit. Sie werden sich irgendwo eine Tür suchen. Manchmal wird der Körper krank. Manchmal setzen schlicht die Nerven die Grenze. In jedem Fall wird es einen unbewusst steuern, wenn das Leben darauf ausgerichtet ist, die schambesetzten Gefühle zu vermeiden, die brennen wie die heiße Herdplatte. Mich tröstet der Gedanke, dass die Bibel irgendwann einmal damit Schluss gemacht hat. Sie war buchstäblich mit ihrer Weisheit am Ende. Bis zur sogenannten Krise der Weisheit im 6. Jahrhundert v. Chr. hatte man für alles eine flotte Erklärung parat. Bei Misserfolgen hatte man eben selbst etwas falsch gemacht. Um sie zu vermeiden, gibt unter anderem das Buch der Sprüche gute Tipps zur entsprechenden Lebensführung. Dieser „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, nach dem es dem Guten gut und dem Schlechten schlecht geht, war ein gutes Rezept, sich die tiefere Auseinandersetzung mit dem Leid vom Hals zu halten. Aber so funktioniert das Leben einfach nicht. Das Volk Israel hatte in seiner Geschichte genug Niederlagen erfahren, um zu der Einsicht zu kommen und in seinen Schriften festzuhalten: „Im Leben hat alles seine Zeit. Lachen und Weinen. Höhen und Tiefen. Man kann es nur so nehmen, wie es kommt.“ So rät es jedenfalls der Prediger Salomo.

Es nehmen zu können, wie es kommt, ist auch ein wesentliches Merkmal von Resilienz. Sie ist so etwas wie die Widerborstigkeit der Seele, die Fähigkeit, unter Druck nicht zu zerbrechen. Sie kann sich eine Zeit lang biegen und flexibel machen. Eine wichtige Voraussetzung für diese Widerstandsfähigkeit der Seele ist, den Schmerz zu akzeptieren. Das geht aber nur, wenn man die Scham dafür ablegt. Dann darf auch gejammert und geklagt werden.

In der Bibel haben sich Menschen von dieser Scham befreit. Die Klagelieder erzählen von den Schattenseiten des Lebens. In den Klagepsalmen klagen Menschen Gott ihr Leid. Am besten finde ich das Buch Hiob: Hiob klagt über den Verlust seiner Familie und seines Vermögens. Doch Hiobs Freunde schieben ihm selbst die Schuld für seine Schicksalsschläge zu. Sie beschämen ihn mit ihrer Besserwisserei und dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Vielleicht haben Sie so etwas auch schon erlebt. Aber Hiob bleibt bei seiner Klage. So lange, bis Gott sie hört. Ich glaube daran, dass es ein Ausdruck tiefsten Vertrauens ist, Gott sein Leid zu klagen. Ind em ich meine Klage ausspreche, akzeptiere ich mein Leid. Ich mache mich frei von der Scham, meine Seele ist erleichtert, und ich sehe vielleicht klarer, was ich tun kann.

Im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg wollten wir Menschen dafür Raum geben. Zur Karwoche haben wir auf Instagram den @Klageraum eingerichtet: Trauer, Wut, Verzweiflung – alles durfte dort einen Platz haben. Mit einem Team von Seelsorgerinnen und Seelsorgern standen wir bereit, auf die eingehenden Nachrichten zu antworten, die verschiedenen Klagen in den Postings aufzunehmen und sie in einem live übertragenen Gebet vor Gott zu bringen. Schnell war klar, dass die Pandemie eigentlich „nur“ on top auf die Sorgen kommt, die Menschen sowieso schon haben: Beziehungsprobleme, Ärger bei der Arbeit, Schicksalsschläge. Dazu kamen die Erfahrung von Frust, Einsamkeit und Überforderung durch die Situation der Pandemie.

Bei diesem Projekt habe ich erfahren, dass es heilsam ist, nicht immer auf eine Klage gleich eine Antwort haben zu müssen. Es ist heilsam, Leid auszuhalten und Klagen stehenzulassen. Niemand muss sich dafür schämen, wenn es ihm schlecht geht. Keine Stimmen der Welt müssen das zum Schweigen bringen. Im Gegenteil. Die Klage ist immer auch der erste Schritt aus dem Leid heraus.

Die Autorin ist Pastorin im Ev.-Luth. Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg und Mit-Initiatorin des digitalen @klageraum auf Instagram. Seit 2016 ist sie als Seelsorgerin in den sozialen Medien aktiv.
 

Orte der Klage

Ein Ort der Klage in Hamburg ist die Offene Kapelle St. Andreas (linkes Seitenportal der Kirche), Bogenstraße 28. Gebetsanliegen online verschicken: www.st-andreas.hamburg/offene-kapelle/

Raum für Trauer in der Pandemie bietet das Musikalische Abendgebet an jedem letzten Sonnabend im Monat, das durch die Kirchen wandert. Am 29.5., 18 Uhr, Nathan-Söderblom-Kirche, Reinbek.

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