Anzeige
Themenwelten Bergedorf
In der Initiative „Altstadt für Alle!“ tritt Theologe Jörg Herrmann für eine lebendige City ein

Altstadt für Alle: Das Dorf in das Zentrum von Hamburg holen

Jörg Herrmann, hier auf dem Platz der Republik in Altona, ist Leiter der Evangelischen Akademie der Nordkirche. FOTO: ROLAND MAGUNIA

Schon seit Längerem wird in der Zivilgesellschaft darüber diskutiert, wie die Zentren der Metropolen zukunftsfähig gestaltet werden können. In Hamburg setzt sich die Initiative „Altstadt für Alle!“ für die Entwicklung der Hamburger Innenstadt ein. Zu ihren Trägern gehören die Evangelische Akademie der Nordkirche, die Patriotische Gesellschaft von 1765 sowie die Gruppe „Hamburg entfesseln!“. Jörg Herrmann, Direktor der Evangelischen Akademie, stellt die Projekte und Visionen der weit vernetzten Initiative vor.

Hamburger Abendblatt: Was steht hinter dem Konzept „Altstadt für Alle!“?

Jörg Herrmann: In der Initiative „Altstadt für Alle!“ geht es insbesondere um die Belebung der Innenstadt im Bereich des  Wallrings, der ehemaligen Stadtbefestigung. In diesem Areal liegen der Ursprung und das Herz von Hamburg. Unser Anliegen ist es, in diesem Bereich die Aufenthaltsqualität zu verbessern, mehr Vielfalt sowie neuen Wohnraum entstehen zu lassen. Zurzeit ist die Innenstadt noch zu einseitig auf Büros, Ladenflächen und Autoverkehr ausgerichtet. Angeregt durch die Projekte des dänischen Stadtplaners und Architekten Jan Gehl, der mehr Lebensqualität in den Innenstädten umsetzte und Kopenhagen zu einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Stadt gemacht hat, haben wir im Herbst 2017 unter dem Motto „Mut zur Stadt“ erstmals eine Ideenwerkstatt veranstaltet.

Aus der Ideenwerkstatt ging das Wohnprojekt Gröninger Hof hervor, was ist das Besondere an diesem Projekt?

Das alte Parkhaus an der Neuen Gröninger Straße neben der Hauptkirche St. Katharinen soll zu einem Wohn- und Arbeitshaus umgebaut werden. Geplant sind 70 bezahlbare Wohnungen und im Untergeschoss Arbeitsräume, die für Gewerbe, Kultur, Bildung und Gastronomie genutzt werden sollen. Nachdem auch die Stadt daran Gefallen fand, kam es aus der Initiative „Altstadt für Alle!“ heraus 2018 mit weiteren Akteuren zur Gründung der Genossenschaft „Gröninger Hof eG i.Gr“, die das Projekt weiterentwickelt hat. Zu Jahresbeginn wurde ein Architektur-Wettbewerb ausgeschrieben. Das Projekt steht für die Transformation einer autogerechten zu einer vielfältigen, nachhaltigen und menschenfreundlichen Stadt.

Warum ist es so erstrebenswert, für mehr Wohnraum in der City zu sorgen?

Wir leiden immer noch unter dem Konzept der funktionsgetrennten Stadt, das heißt, in einem Viertel schlafen die Menschen, in einem anderen arbeiten sie und in einem weiteren kaufen sie ein. Doch dieses Konzept ist längst überholt. Wir brauchen auch in der Innenstadt bezahlbaren Wohnraum. Wir hoffen, dass die gegenwärtige Krise den notwendigen Stadtumbau voranbringt. Es mussten ja als Folge des zunehmenden Online-Handels und der Pandemie in der Innenstadt schon einige Geschäfte schließen. Wenn die leer stehenden Gebäude für Kulturangebote zwischengenutzt oder für Wohnraum umgenutzt werden, ist das ökologisch nachhaltiger als ein Abriss und Neubau. Und es erhält das Zentrum am Leben.

Wie könnte das Wohnen im Zentrum für Familien attraktiv werden?

Vielversprechend ist eine Stadtentwicklungsidee, die aus Paris stammt, die sogenannte 15-Minuten-Stadt. Alles Wichtige wie Geschäfte, Ärzte, Schulen, Kitas, die Infrastruktur, die man zum Leben braucht, sollen in 15 Minuten zu Fuß oder per Fahrrad erreichbar sein. Man holt sozusagen das Dorf in die Stadt. Dieses Konzept würde das Wohnen für Singles genauso wie für Familien attraktiv machen.

Was kann die Menschen außer Geschäften noch in den Stadtkern ziehen?

Wir wollen die Aufenthaltsqualität der Plätze in der Innenstadt verbessern, sie zu Orten der Kommunikation und Begegnung machen, an denen man verweilen kann, ohne konsumieren zu müssen. Erste Projekte sind dazu schon gestartet. Etwa das Kirchenprojekt „Auf die Plätze“, in dem sich die drei Innenstadthauptkirchen zusammengetan haben, um das Potenzial ihrer kirchlichen Orte zu nutzen. So hat die Hauptkirche St. Petri im Sommer 2019 auf ihrem Vorplatz aus Kirchenbänken und Einkaufswagen zusammengebaute und begrünte Sitzmöbel aufgestellt. Mit dem Feiern von Andachten, Aktionen zum Kochen oder Tanzen wurde der Platz zu einem neuen Treffpunkt. Eine ähnliche Belebung hat „Altstadt für Alle!“ mit einer temporären Fußgängerzone im Rathausquartier 2019 erreicht. Für das Projekt war viel Kommunikation mit den Geschäftsleuten nötig. Mit Erfolg! Am Ende gab es fast nur positive Rückmeldungen. Unsere Vision ist es, das Zentrum so zu beleben, dass es zum Herzstück der Stadt wird, mit dem sich alle Hamburger identifizieren können. Dazu können auch Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum beitragen.

Auch der Autoverkehr ist in der Innenstadt ein Problem ...

Das zeigt sich am Beispiel der stark befahrenen Willy-Brandt- und Ludwig-Erhard-Straße, die eigentlich eine Bundesstraße ist. Sie schneidet die Stadt in zwei Teile. Um eine Unterbrechung des Autoverkehrs zu erreichen, startete Pastor Frank Engelbrecht von der Hauptkirche St. Katharinen das Projekt „Die Altstadtküste atmet auf“, das in Kooperation mit uns 2020 stattfand. Dazu wurde nach erfolgreichem Antrag bei der Stadt die Straße, die südlich der St. Katharinenkirche am Zollkanal entlangführt, für ein Wochenende gesperrt. Statt Autoverkehr gab es dort einen Open-Air-Gottesdienst zur Klimawoche, Musik, Flohmarkt, Diskussionsveranstaltungen und Workshops zur Zukunft der Stadt. Die Aktion wollte zum Nachdenken über neue Mobilitätskonzepte anregen. Ein Ziel wäre, den Personennahverkehr deutlich zu verbessern.

Wie geht es in der Initiative weiter?

Um die Aufenthaltsqualität der Plätze zu fördern, wollen wir Anwohner und Passanten einladen, sich mit Ideen zu beteiligen. Dazu könnte es an ausgewählten Orten in der Innenstadt eine Art Reallabor geben, wo alle ihre Ideen einbringen können. Wir brauchen dringend neue Bündnisse und Formen der Stadtentwicklung, in denen Bürger sich gleichberechtigt mit anderen Akteuren wie der Stadt, den Grundeigentümern und der Wohnungswirtschaft einbringen können. In regelmäßigen Workshops sprechen wir über neue Ideen, sie finden auch in der Pandemie-Zeit als Online-Veranstaltung statt.

Infos zum nächsten Online-Workshop bald unter: www.altstadtfueralle.de und www.akademie-nordkirche.de/projekte; Thesen zur Stadtentwicklung in Zusammenarbeit mit dem Künstlerkollektiv LU’UM unter: www.dieschönstestadtderwelt.de ANN-BRITT PETERSEN

Weitere Artikel