Viele Faktoren gefährden immer wieder die Versorgung der Patienten mit Medikamenten: Hamburger Apotheker Andreas Hintz
Die zweite Welle der Corona-Pandemie hat Deutschland erreicht. Erneut stehen damit auch die Apotheken hierzulande vor großen Herausforderungen. Über den Apothekenalltag im Herbst 2020 sprach das Ärztemagazin mit dem Apotheker Andreas Hintz.
Herr Hintz, bei welchen Präparaten haben Sie in der Corona-Pandemie Engpässe verzeichnet?
Konkret übertrifft die Nachfrage nach Grippeimpfstoffen die Anzahl an ausgelieferten Packungen. Hier in Hamburg gibt es aktuell kaum noch Arztpraxen, die ihren Patienten eine Grippeimpfung anbieten können. Nachschub wird erwartet. Dasselbe gilt für einen Impfstoff gegen Pneumokokken, die Erreger einer Lungenentzündung.
Die Pandemie dauert nun schon eine Weile. Wie sieht es mit Engpässen heute aus?
Am Anfang der Pandemie im März wurden verschiedene Medikamente aus anderen Indikationsgebieten für ihre Eignung im Einsatz gegen Covid 19 erprobt. Daher kam es zum Beispiel für einige Wochen zu Engpässen bei der Versorgung mit einem HIV-Präparat und bei Präparaten mit den antientzündlichen Wirkstoffen Chloroquin, Hydroxychloroquin und dem Antibiotikum Azithromyzin. Deren Liefersituation hat sich mittlerweile entschärft. Gleich geblieben sind relative Knappheiten umzugebei verschiedenen Impfstoffen, bei bestimmten Psychopharmaka und zum Beispiel dem Antibiotikum Cotrimoxazol.
Hat sich die Liefersituation generell entspannt oder verschärft?
Generell haben sich schon längere Zeit bestehende Lieferschwierigkeiten im Arzneimittelbereich bei verschiedenen Wirkstoffen eher verschlechtert statt verbessert. Heute ist es für jede Apotheke eine logistische Herausforderung, über verschiedene Bestellwege an die gefragten und seltenen Packungen zu gelangen. Das bedeutet einen Mehraufwand, den nicht jede Apotheke personell leisten kann.
Und das bedeutet für die Patienten?
Ist ein bestimmtes verschriebenes Medikament nicht lieferbar, bietet jede Apotheke den Austausch auf das Produkt eines anderen Anbieters an, sofern verfügbar. Dieser erzwungene Wechsel kann in einzelnen Fällen zu einem Risiko führen. Besonders ältere Patienten mit vielen Medikamenten können durcheinander geraten. Plakativ gesagt: Bis jetzt war die kleine grüne Tablette aus der roten Schachtel das Herzmedikament, jetzt soll laut Apotheke die große eckige blaue Tablette aus der weißen Packung das identische Produkt sein? Hier kann der Engpass Menschenleben gefährden.
Hat sich bei der Abhängigkeit von Asien bei pharmazeutischen Grundstoffen und Präparaten bisher etwas geändert?
Die Verlagerung und Rückholung einzelner Produktionsschritte oder gesamter Fertigungen nach Europa ist aber ein langwieriger Prozess, der bisher für uns keine Veränderungen bringt.
Muss sich noch mehr ändern?
Es besteht aus meiner Erfahrung ein fataler Zusammenhang zwischen Rabattverträgen und Verknappung. Die Krankenkassen fokussieren zu sehr auf niedrigste Preise mit Vertragsherstellern und lassen dabei die Risiken eines Versorgungsengpasses außer Acht. Es werden zu oft Verträge mit wenigen oder einzelnen Anbieterfirmen geschlossen, so dass andere Hersteller ihre Produktion in diesem Wirkstoffbereich herunterfahren. Das kann man nicht kurzfristig kompensieren, wie sich jetzt zeigt.
Was führt außerdem in Extremsituationen wie dieser zu Medikamentenknappheit?
Das Preisgefälle innerhalb Europas. Durch diverse Sparmaßnahmen und Mechanismen der Preisregulierung der Krankenkassen existieren bei bestimmten Wirkstoffen in Deutschland extreme Niedrigpreise. Dieses wird nicht offen kommuniziert und daher auch nicht wahrgenommen. Dadurch entstehen finanzielle Anreize auf verschiedenen Stufen des Handels, diese begehrten Produkte gewinnbringend ins Ausland zu verkaufen. So werden den Patienten Packungen entzogen, die eigentlich extra zu diesem niedrigen Preis für Deutschland produziert wurden.
Verhalten sich Kunden heute anders, etwa indem sie bestimmte Artikel häufiger nachfragen?
Generell haben die Kunden aus meiner Sicht gelernt, mit den phasenweisen Engpässen umzugehen. Aber es gibt Ausnahmen. Nur wenige Tage nach einer umstrittenen Meldung in den Medien hatte es vor einigen Monaten einen regelrechten Ansturm auf Medikamente mit dem Wirkstoff Paracetamol gegeben. Für eine Woche waren diese Arzneimittel in Hamburg fast überall ausverkauft. Andere hingegen horten ihre verschreibungspflichtigen Medikamente. Aber das ist eher nicht die Regel.
Hat ganz generell die Pandemie Ihr Geschäft betroffen?
Insgesamt fehlt uns viel Laufkundschaft. Dennoch sind die einzelnen Arbeitsabläufe sehr viel zeitintensiver und arbeitsaufwändiger geworden: Bei einer großen Anzahl Präparate müssen wir Alternativen ausfindig machen, dies dem Patienten erklären und mit dem verschreibenden Arzt absprechen. Dieser Mehraufwand wird durch die Krankenkassen nur ansatzweise honoriert. Gleichzeitig fordern die Krankenkassen von Apotheken Geld zurück, falls bei der Belieferung von Rezepten nicht alle Regeln bis ins kleinste Detail korrekt befolgt worden sind. Eine Entlastung von Bürokratie wäre ein echter Gewinn für jede Apotheke. Die Fragen stellte Detlev Karg